Von einem, der auszog, sich nicht fürchten zu lernen

Ein Gastbeitrag von Uwe N. Philipp


<article image> im prinzip tango: uwe n. philipp
Fotograf, Protagonist und Porträtierter: Uwe N. Philipp
Er war ein furchtbarer Zauderer, mein alter Freund Uwe. Bis er vor zweieinhalb Jahren beschloss, sich auf seine Lieblingsaktivitäten - Fotografieren und Fahrradeln - zu beschränken. Allerdings nicht im räumlichen Sinne: Mit Minimalgepäck tourt er seitdem durch die Welt, zauberhafte Bilder, Geschichten und Begegnungen sammelnd. Ob er dabei lernt, sich nicht mehr zu fürchten? Ich weiß es nicht. Und vielleicht sind seine Erfahrungen während der Besteigung eines sehr(!) hohen(!) Berges eh viel wertvoller als ein Sack voll Gold und die Tochter des Königs...

Bühne frei für Uwe N. Philipp
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HUAYNA POTOSI..... Die Geschichte


Vor einem Jahr las ich von einem Berg in Bolivien, der einer der am einfachsten zu besteigenden Sechstausender sei. Ich googelte nach Bildern, war voller Begeisterung und schrieb Momo, ob wir ihn nicht gemeinsam angehen wollen.
Als ich letztens am Titicacasee über eine Kuppe radelte, sah ich ihn in der Ferne aufragen. Welch ein Berg! Ich hatte bereits Wochen zuvor geplant, mit dem Bike bis zur Passhöhe zu fahren, dort zu zelten und den Anblick zu genießen. Im Grunde sind Berge meist von etwas Entfernung am schönsten.
In La Paz fand ich in Carlos einen Ingenieur, der das "Nicht-Reparierbare" reparieren konnte, meinen Bremshebel. Glücklich über diesen Umstand brachte ich ihm meinen zweiten, schon lange defekten, ebenfalls. Doch Carlos hatte viel zu tun und ich musste weitere Tage in La Paz bleiben.
Für mich ist so etwas ein Wink.

Ich ging in eine der vielen Bergsteigeragenturen und fragte nach dem Preis für die Besteigung. 85 € für zwei Tage inklusive Ausrüstung und Vollpension, 115 € für drei Tage plus einem Gletscher-Training. Der Bergführer war mir sympathisch, und ich buchte für zwei Tage. Als ich später mit dem Geld kam, dachte ich mir, das Leben ist so schön, und buchte den Kurs mit. Drei Tage, easy einen Sechstausender hinauf.

Als ich wenig später durch die Straßen lief, dachte ich: "Du spinnst, Uwe!"

Samstagmorgen, Treffpunkt Agentur, Ausrüstungsübergabe. Bergstiefel, Steigeisen, Eispickel, Anorak und Überhose. Am Gipfel wird es -15°C haben. MINUS 15°C, bei mir steigt Unsicherheit auf. Habe ich genügend Warmes eingepackt? Meine Antwort ist Nein!
Wir beladen das Auto, und los geht es zum Pass. Wir werden zu dritt sein, Eliseo, der Bergführer und Marco, ein etwa 30-jähriger Tourist. Hinzugesellt hat sich Felix, ein erfahrener Alpinist aus Argentinien, der den Gipfel solo erklimmen will.

Bin ich heilfroh, dass ich dort nicht mit dem Bike hinauffahre, so steil und übel ist die Steinpiste. Irgendwann taucht er auf, der Huayna Potosi.
Oh my Lord, wie schön.
"Wenn ich dort sterbe oder jetzt in diesem Augenblick, ich werde glücklich und voller Freude sein".
Es ist wichtig, dass ihr es wisst!

Auf der Passhöhe (~4.900 m) stehen einige Berghütten, in einer nehmen wir Quartier.

Im Eck stehen zwei Fahrräder! Sie gehören einem spanischen Ehepaar, Mitte 50, weltreiseerfahren und für ein paar Monate in Bolivien und Chile unterwegs. Sie ließen ihr Gepäck hochfahren und strampelten hinterher. Morgen werden sie den Gipfel besteigen. Wow!

Nach dem Mittagessen wird gepackt, und nach zirka einer Stunde erreichen wir eine Gletscherzunge, um das Gehen im Eis zu üben. (Um das mal so ganz nebenbei anzumerken, das ist höher als der höchste Berg Europas.) Den Eispickel in das Eis zu schlagen und sich daran hochzuziehen ist spürbare Arbeit.
Das Training ist erfolgreich absolviert, und es geht, vorbei an einer Gruppe Einheimischer, die eine Zeremonie zu Ehren Pachamamas abhalten, zurück zur Hütte.

Wie geil dieses Eis funkelte und die Sonne auf der Haut brannte! Ich bin so happy.

Die Nacht ist nicht so ganz entspannt, einer der Zimmergenossen sägt stapelweise Holz. 😉
Mein Wecker steht auf 6:00, ich will unbedingt den Sonnenaufgang erleben. Es ist einfach unbeschreiblich, wenn das nachtschwarze Blau in das zunächst kalte Rot und dann in das warme Gelb-Orange übergeht. Und die beißende Kälte von der Wärme der Sonne vertrieben wird.

Hoch oben am Gletscher, in der Aufstiegsspur sehe ich zwei, drei Menschen gehen. Abwärts! Hoffentlich ist nichts geschehen. Es ist 6:30, um diese Zeit müssten sie eigentlich am Gipfel stehen.

Der Vormittag ist zur freien Verfügung. Das spanische Ehepaar kehrt zurück, leere Blicke, ein karges Bon Dia. Erst später erfahre ich, was geschah. Sie litt unter der Höhenkrankheit und blieb im Hochlager, er entzog an einer heiklen Stelle dem Bergführer das Vertrauen und kehrte um. Ende eines Plans. Bei mir grummelt es.

Der Aufstieg nach dem Mittagessen hinauf zum Hochlager auf 5130 m soll 2,5 Stunden dauern. Ich bin nach 1,5 Stunden oben. Wolken ziehen auf, es stürmt, ist eiskalt. Von Unsicherheit zu sprechen, wäre jetzt untertrieben!

Wir werden morgen nicht die einzigen Berggeher sein, ich zähle etwa 30 andere Aspiranten.

Um 17:00 gibt es Abendessen, 0:00 ist Wecken, 1:30 Aufbruch. Letzte Anweisungen zum Anziehen: Zwei Paar Socken, Leggins, Trekking-Hose und Überhose, zwei Unterhemden, Vliesjacke und Gore-Tex-Anorak, zwei Paar Handschuhe, Gesichtsschutz.

Zum Glück sind wesentlich weniger Holzstapel abzuarbeiten gewesen.😉 Dafür rumort mein Bauch.
Auf meiner Hütte sind noch ein Spanier mit seinem Freund und deren Guide. Als ich so nachts ihre Ausrüstung sehe, alles vom Feinsten, ihre Gipfelerfolge höre, wird es mir ganz anders. Eisäxte, Thermoklamotten und blitzende Steigeisen. Und ich sehe noch etwas anderes, Blisterverpackungen werden hervorgeholt und irgendwelche Tabletten eingeschoben. "Oh, Uwe!" Ich bekomme das Frühstück kaum hinunter.

Aber jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, die Stirnlampe wird eingeschaltet, der Rucksack geschultert, nochmal gepinkelt, auch wenn nichts mehr kommt. 😉
Der Sturm hat sich gelegt, die Sterne funkeln und der Fast-Vollmond erleuchtet den Schnee. Nach 10 Minuten erreichen wir den Gletscher, jetzt wird es ernst. Vor uns sieht man die einzelnen Seilschaften den Weg mit ihren Lampen erhellen, ein epischer Anblick, lauter Abenteurer auf ihrem Weg. (Habe wohl zu viel Luis Trenker gesehen! 😉)

Erste Belastungsprobe nach einigen Minuten, der Schnee ist zuende, es geht ein Stück bergab über Steinblöcke. Das ist mehr ein Eiertanz als Kür. Und dieser Stahl auf Fels ist ein quälendes Geräusch. Doch schon bald erklingt wieder die Musik des tiefgefrorenen Schnees, Eiskristalle funkeln, kontinuierlich geht es bergauf, die Zacken schlagen sich in das vereinzelte Eis.
Irgendwann verschwindet der Mond hinter einem Bergrücken und es wird kalt, richtig kalt. Ich fröstele am ganzen Rücken.

War es bisher einfach nur gehen, geht es nun plötzlich einen Absatz, auch wenn nur kurz, um die 70° hinauf. Und immer wieder dieses Eis, nicht immer gelingt es mir, den Eispickel auf Anhieb so zu verankern, dass ich mich daran hochziehen kann. Zum Glück hält Eliseo das Seil straff gespannt. Mein Herz rast, jede Bewegung ist so anstrengend, dass ich eine Verschnaufpause brauche.

Die Überschrift für meinen Bericht steht fest: Mein erster Sechstausender... und mein letzter!

Ab und an kommen uns zwei, drei Leute entgegen, gezeichnet von Erschöpfung und Enttäuschung.

Gut 2,5 Stunden sind vergangen, und Eliseo meint, wir hätten die Hälfte geschafft und nun werde es wieder leicht. Wir sind auf 5.600 m. Das Gehen fällt mir wieder leichter, ich bin der letzte der Seilschaft und zu schnell! Immerwieder rücke ich zu Marco auf, muss stoppen, das ist nicht gut. Das langsamer Sein gelingt mir kaum.

5.800 m, noch 300 Höhenmeter bis zum Ziel. Ich knicke förmlich ein. Es ist nicht die Pulsfrequenz noch der Atemrhythmus. Es ist das Gefühl, keine Kraft mehr entwickeln zu können, weder in Beinen noch in Armen. Auch fällt mir auf, dass ich keine Sätze mehr formulieren kann. Alarmstufe Orange! Ich suche mir bereits einen Platz, an dem ich warten kann auf die Rückkehr der Gefährten. Ich will ja nicht, dass Marco wegen mir nicht oben ankommt.

Eliseo verlangsamt das Tempo, nimmt mich in die Mitte des Seils. Es geht besser. Ich habe zwar fast zwei Liter Flüssigkeit dabei, doch die sind beinahe zu Eis gefroren und unterstützen mich nicht wirklich (Anfänger!).

Am Horizont kündigt sich der neue Tag an, wir werden es nicht bis zum Gipfel bei Sonnenaufgang schaffen. Wegen mir.

Kurz unterhalb der 6000 Meter-Marke verschlägt es mir dann den Atem. Die letzten 100 Höhenmeter, etwa eine Stunde lang, geht es steil einen Grat hinauf zum Gipfel. Jetzt kommt zu der Erschöpfung Angst, pure Angst! Links und rechts geht es auf Nimmerwiedersehen hinunter. Aber hier kann ich in Sicherheit bleiben und warten. Ich teile es dem Bergführer mit. Listo, nichts geht mehr!
Er lächelt, schaut mich an und sagt: "Go, du schaffst es." Und Felix wiederholt unermüdlich: "Breath deep!"

Wie gerne würde ich jetzt schreiben, dass ein Strahlen in meinen Augen blitzte, ich das Ziel fokussierte und voller Wagemut und Vertrauen den Gipfel erstürmte.
Nichts davon wäre wahr. Stattdessen kämpfte ich den Kampf zwischen Selbstverantwortung, sprich Abbruch, und Selbstmotivation und damit Überschreiten einer vielleicht nur mental existierenden Grenzlinie.

Ok, weiter, never give up, du packst das, und all die anderen dummen Appelle.

Die Sonne ist aufgegangen und taucht die bizarre, vom Wind geformte Schneelandschaft in morgendliches Orange. Die Kamera kann ich nicht halten, doch diesen Anblick werde ich nie mehr vergessen, er brennt sich in jede meiner Poren.

Mit einer Mischung aus Mut, Angst und vor allem Vertrauen in Eliseo kämpfe ich mich hinauf auf 6088 m. Oben auf dem Schneegipfel setze ich mich nur hin und bekomme kaum etwas mit. Ich sehe andere in Siegerpose, sich umarmen, sich gegenseitig mit Fahnen fotografieren.

Felix gratuliert mir, ich sei für ihn ein Vorbild, das er immer in Erinnerung behalten werde.

Und ich kann es nicht genießen, ich bin so hoch oben und kann es nicht genießen!

Mein letzter Sechstausender!!!

Hinunter muss ich als erster. Wieder dieser Grat und der sichere Zug am Seil. Je weiter wir nach unten kommen, desto besser geht es mir. Die Zeit drängt, durch die extrem starke Sonneneinstrahlung droht Steinschlag und Eisbruch. Jetzt erst sehe ich die tiefen Gletscherspalten, über die ich in der Nacht gesprungen bin und die mich nun erschaudern lassen.

Welch eine Welt hier im Eis, wie froh bin ich, es gewagt zu haben!
Die Steilpassage wird nochmal eine Herausforderung, mir fehlt es an Kraft. In der Hütte gibt es eine heiße Suppe, und gegen Mittag sind wir zurück am Basecamp. Ein Taxi bringt uns zurück nach La Paz.

Die beiden spanischen Bergsteiger, Felix und ich laden Eliseo und seinen Bruder noch zum Essen ein. Marco ist so kaputt, dass er nur noch schlafen will.

Eine erste Selbstanalyse meiner Schwierigkeiten erfolgt. Was werde ich das nächste mal besser machen. Und plötzlich ist keine Rede mehr von "mein letzter Sechstausender". 😉

Und immerhin: Gerade mal die Hälfte der Aspiranten kam oben an, und die waren fast alle halb so alt wie ich.

Mit dem Begriff Stolz habe ich schon immer meine Schwierigkeiten. Und so kann ich auch hier nicht sagen, ich bin stolz auf meine Leistung. I did it und ich bin dankbar dafür, das reicht.

Als ich eine Woche später La Paz verlasse und schon einige Kilometer auf dem Altiplano unterwegs bin, drehe ich mich noch einmal um und sehe ihn in aller Pracht. Langsam beginne ich zu begreifen, was da so alles geschah.

P.S. Während ich dies schreibe, sitze ich am Fuße des Sajama, dem mit 6542 m höchsten Berg Boliviens. Ein traumhaft schöner Berg. Acht Stunden sind es vom Hochlager bis zum Summit. Ein wirklich schöner Berg. Ich meine ja nur...

Keine Sorge, der Hurrikan in der Karibik schickt seine Ausläufer bis hierher, es stürmt und schneit. Und ich kenne meine derzeitige Grenze: 6088 m.
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Merci für diese anrührend ehrliche Geschichte! Alles Gute, tapferer Reisender!

... und da machen sich diverse Tangotänzer in die Hose, wenn sie mal eine Frau (wesentlich kleiner und wärmer als 6000 Meter-Gipfel) auffordern sollen? Es heißt doch: "Wer Tango tanzen kann, braucht sich vor nix mehr zu fürchten." Oder?

Wer Uwes Weg weiterverfolgen möchte, kann das hier tun:
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Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

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