Tango ist nur Gehen!?

Verde mar


Bei diesem von Tangolehrern und Tangovermarktern inflationär benutzten Satz weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll: Wahr ist, dass Tanzen auf Gehen basiert. Aber Gehen ist Gehen und Tanzen ganzkörperliche, kreative Umsetzung musikalischer Impulse, bei denen zwangsläufig mal der eine, mal der andere Fuß auf den Boden kommt, in Form von Schritten. (Zumindest dann, wenn der Studiobesitzer die Schwerkraftrechnung bezahlt hat.) Mangelt es schon am Gehen, wird Tanzen zum Problem.

Fakt ist, dass tatsächlich in manchen Tango-Lektionen simples „Gehen“ unterrichtet wird. Ein Produkt, das dem Normalverbraucher mit Schwierigkeiten im Gestell besser helfen würde als Einlagen oder noch ein Besuch beim Orthopäden.

Verkauft wird die Geschichte aber unter dem Label „Tango tanzen“. Deswegen starten die Tangoschüler die neuen Bewegungs-Geh-Ideen-Versuche (so sie selbige verstanden haben) ausschließlich auf dem Parkett. Der Weg zur Umkleide, zum Klo oder Auto wird in alter Manier abgegangen. Schade! Der Fortschritt für den eigenen Tanz steht dann auf Standby. Und die wirklich lobenswerten, wertvollen Aspekte für gutes Gehen versacken im Nirwana.

Aber was genau sind denn diese von den Tangoleuten beschworenen Wohlergehens-Basics?
Lassen wir uns inspirieren und klauen Ideen aus diesem Tanz! Wie gesagt, um vom Wohlergehen zu profitieren, musst du nicht zwingend Tango tanzen. (Zähneknirschende Anmerkung der Autorin: Einige Tangoistas ignorieren auch hartnäckig die Zusammenhänge, wenn sie so tun, als würden sie gehen, äh tanzen.)

Hinter- und Vorderpfoten gegengleich bewegen: der gute, alte Kreuzgang


Was wirklich immer basses Erstaunen und motorische Verzweiflung bei den (erwachsenen) Kursteilnehmern hervorruft, ist die leichte, gegengleiche Drehung des Schultergürtels bei jedem Schritt. Machst du einen Schritt mit rechts voran, wird sich deine linke Schulter nach vorne bewegen, die rechte nach hinten. Beginnst du mit links, geht die rechte Schulter vor und die linke automatisch zurück. Rückwärts funktioniert das natürlich auch.

Der Kreuzgang ist ein ganz natürliches Bewegungsmuster! Die schöpferischen Baumeister haben dafür einfach den Vierfüßlergang für die Senkrechte modifiziert. Bis auf wenige Ausnahmen bewegen sich Vierbeiner so: rechtes Hinterbein und (gegengleich) linkes Vorderbein Richtung Ziel. Eidechsen kriechen in diesem Modus. Der Mops promeniert derart mit seinem Herrchen. Wir Menschen haben das im Krabbelzeitalter eingeübt und in Tempo und Gewandtheit heftig optimiert.
Wir haben es sogar spielend geschafft, das Muster in die Vertikale zu transferieren. Immer besser, geschwinder, geschickter. Wir haben so viel Arbeit und Entwicklungsenergie investiert. Und dann sind wir älter geworden, vielleicht sogar erwachsen, und haben uns immer weniger bewegt. Heute laufen wir vielleicht noch zum Auto und nach der Fahrt ins Büro. Die paar Stunden Sport oder Tango in der Woche reißen es auch nicht raus, vergleicht man sie mit der Anzahl der bewegungsarmen Stunden.

Was ist aus unserer Bewegungslust geworden? Vergessen? Dabei vermittelt gerade das Gegengleich-Modell spürbar beschwingten Genuss. Einfach so. Geschenkt! Auch auf dem Weg zum Auto.
Probier‘s aus! Lass deine Arme beim Gehen einfach mitschwingen, der Rest des Gestells macht liebend gern mit, bis in die Füße hinein. Das wirkt jung, elegant, lässig. Und fühlt sich prima an. Wellness to go!

Das Konzept Fuß * tangofish

Das war ein Abschnitt aus meinem neuen Buch „Konzept Fuß - Fußprobleme verstehen, bearbeiten und lösen" für Normal-Fußbenutzer mit ohne Tango.


Aber da dieser Blog ja (auch) Tango zum Thema hat, transportieren wir die aus dem Tango geklaute Idee zurück und schauen, wie du davon - speziell als Tangoist - profitierst:


Kennst du das auch? Mir haben diverse Tangolehrer in meiner Frühzeit eingebimst, dass sich der Beckengürtel niemals nicht (!) in der Horizontalebene zu bewegen hat. Schwingende Hüften gehören zum Salsa! Basta! Lediglich Beckendrehen sei erlaubt – so als wäre die Taille ein horizontal-rotierbarer Servierteller, zu nutzen bei Ochos. Dieses unumstößliche Gebot habe auch ich jahrelang artig befolgt. Meinen Hintern festgeschraubt. Und irgendwann bemerkt, dass dieses Muster unphysiologischer Blödsinn ist.

Machst du einen langen Schritt nach hinten – sagen wir mal mit rechts, muss sich natürlich deine Beckenhälfte auf dieser Seite mitbewegen! Sie ist ja quasi die Verlängerung deines Geläufs. Nur durch Anspannung der in dieser Pobacke befindlichen Muskeln bist du überhaupt in der Lage, dein Bein nach hinten zu strecken. (Drum braucht's zum Tango unbedingt Arsch in der Hose.)
Entspannst du die Hinternhälfte wieder, kommt dein Bein locker-flockig samt Popoanteil unter deine Achse und du kannst dich draufstellen. Was ganz praktisch ist, um den nächsten Schritt zu tun.
Mehrere Rückwärtsschritte hintereinander werden also dein Becken zwangsläufig in Bewegung bringen. Das Fidle wackelt. Und das ist gut so.

Am Rücken laufen Muskelzüge, die für's Gehen zuständig sind, überkreuz: von der linken Schulter zur rechten Pobacke und anschließend das rechte Bein hinab et vice versa. Nimmst du bei einem rechten Rückwärtsschritt die linke Schulter nach hinten, erlaubst du dieser Muskelkette, in ihrer ganzen Länge in Aktion zu sein. Dann arbeiten die zahlreichen vereinten Muskelgesellen zusammen, was ihnen ihren Job wesentlich erleichert: der Kraftaufwand verteilt sich auf viele. Das erlaubt dir, deine Moves wesentlich differenzierter, weicher und eleganter zu gestalten und eben nicht mehr in den Schritt hinein zu plumpsen.

Mit der Zeit wirst du es auf diese Art sogar spielend schaffen, die andere Seite ganz schnell zu entspannen. Das spart Energie für weitere Tänze.

Mir als Fastzwerg hilft diese Bewegungsidee enorm: Man wird elastisch länger, ohne die Knie duchzustrecken wie eine Ballerina. Die Verbindung – die berühmte conexión – lässt sich so sehr viel einfacher und vor allem wohliger gerade mit großen Tanzpartnern halten (siehe Video unten).
Es fühlt sich einfach verdammt gut an, so geschmeidig dahinzuschleichen – nicht nur in dir drin, sondern auch für den Führenden. Oder die Führende ;)

Was rückwärts geht, funktioniert auch vorwärts. Das normale Gehmuster wird ja auch eher in Vorwärtsrichtung genutzt. Rückwärts spazieren gehen tut in der Regel ja keiner.

Nutzt du es bei Tangoschritten nach vorn, erlaubt dir der Kreuzgang, den hinteren Fuß ganz lange am Boden zu lassen. Und siehe da! Auch hier bewegt sich das Popscherl mit auf eine äußerst knusprige Art und Weise. Obacht Geheimnisverratung: Genau da hat die Katzentatzenschleicher-Eleganz ihren Ursprung.
Freihändig getanzt, sieht das so aus:



Koste, dann weißt, wovon ich schreibe. Darfst auch die Figüren berühren, dort wo die Pfoten nicht verboten... Und La Paloma pfeifen. (Warum? Zu Recht!)


Herzliche Grüße und bis bald,
Manuela Bößel

zum neuen Blog: www.tangofish.de

Kommentare

  1. Von Gerd Kaap (1 von 2)

    Vor einigen Jahren überredete mich eine Dame, mit ihr im Handumdrehen den Tango zu lernen. Meine Einwände, dass dieser Tanz nicht über kurz oder lang nebenbei zu erlernen ist und es ungeheuer viel Mühen bedarf, damit es für beide eine gelungene Sache wird, zählten nicht." Das ist nur Gehen...." hörte ich, obwohl einschlägige Filme und Videos etwas Gegenteiliges aussagten. Darum ab in eine Tanzschule zu einem Lehrer, der das anschließend genau bestätigte. Und in der Tat, grandios mühelos war das. Währen der ersten drei Unterrichtseinheiten fühlten wir uns wie die Zirkuspferde. Im Kreis aufgestellt umrundetet wir den zum Domteur ohne Peitsche mutierten Tanzlehrer, der uns dröhnend brüllend mit „.... uuund Schritt, uuund Schritt.....motivierte". Peinlich darauf achtend, dass die Ferse nur geringfügige vom Boden abhob und wir jederzeit im Gleichschritt blieben. Ansonsten konnte jeder latschen, wie er will. Das wäre die Grundvoraussetzung für den Tango und die Basic- Line verkündete er abschließend. Spektakulär, echt genial. Geht doch alles ratzfatz, nahmen wir an. Nach diesen drei Einheiten folgten die ersten Figuren. Jede Unterrichtsstunde eine Neue. Wer die nicht von dem mit Schritten zerfressenem Gehirn in die Füße bekam, kann ja bis zur nächsten Stunde auf einer x-beliebiger Milonga üben oder die Figur einfach vergessen. Denn der Legobaukasten der Tangofiguren wird noch viel üppiger. Im laufe der Zeit sank die Motivation auf minus Null, mehr noch, dass zarte Tangogefühl, was beim hören der Musik vorher immer aufkam, erzeugte zunehmend weißes Rauschen. Schluss! Aus! Ende!. Vorbei? Denkste ! Der Funke hatte das Feuer entfacht, wir brannten. Burnout? Gibts doch nicht.

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  2. Von Gerd Kaap (2 von 2)

    Einige Schnupper- und Recherchestunden danach standen wir vor unserem Privatlehrerpaar. Bevor wir einen Fuß vor den anderen setzten durften, hörten wir ganz trivial Tangomusik. Erhielten Erklärungen zu den Paketstrukturen der Kompositionen, zu den einzelnen Beats in der Tangomusik und wie unser Gehirn damit umgeht, und was für Gefühle es an den Körper sendet. Und noch immer kein einziger Schritt. Ob daraus je ein Tango wird? Statt dessen Körper – und Energiearbeit. Ausgiebig üben wir heute immer noch das Tango-Scharnier, konzentriert, den in den Armen vor der Brust haltenden imaginären Plüschelefanten mit dem Oberkörper folgend ohne das Becken mitzunehmen. Dann endlich die ersten Versuche eines Schrittes auf der Stelle. Was, das soll ein Schritt sein? Ja, jeder Fußwechsel ist ein Schritt und oft schreit die Musik nach ihm. Dann, wenn der Kopf das Gefühl zur Dame sendet, ein Rückwärtsocho ist fühlbar. Wir sind beim Fußwechsel keinen Zentimeter gelaufen und haben doch einen Schritt vollzogen. Wann bewegen wir uns denn nun vorwärts, fragten wir uns mit wachsender Ungeduld. Immer noch in dem gewohnten Denken verhaftet, Tango ist nur Gehen. Nur? Der Stil ist die kleine Schwester der Kunst, der Tango ist ein Kunstwerk, demzufolge gehen wir mit Stil, wenn wir denn gehen. Das stilvolle Gehen, setzt eine Präsenz und Klarheit des Herren voraus. Wie Egon Olsen, braucht er einen Plan. Was daraus wird, sieht er am Ende des Tanzes. Heißt, durch Klarheit, Präsenz, Interpretation der Musik, der Körper- und Gewichtsarbeit, dem Atmen erfühlt meine Tanzpartnerin wie und wann ich als Führender den Tanz beginne. Es folgt dann nicht platsch, plumm drauf auf den Fuß, breitbeinig wie ein Eiskunstläufer immer weiter schneller. Das vielgerühmte gehen im Tango ähnelt mehr einem balancieren auf einem Drahtseil. Vor allen Dingen wenn wir 1,2 oder 3- gleisig fahren. Jederzeit darauf achtend nicht umzufallen- in der Achse zu bleiben, für die beide verantwortlich sind. Die Krone ebenso bei Drehungen und Figuren nicht verlierend. Mit den Schritten senden wir Energie in den Boden. Eine Kombination aus Energie, Atmung und Präsenz verhilft unmerklich zu einer Eleganz. Ohne anatomische Gedanken und trainierte Abläufe. Der Fuß, er ist unten. Doch er, verdient Beachtung und wird von Außenstehenden stets wahrgenommen. Es ist seine Eleganz, die Punktierungen zulässt oder mühelos eine Abschlusspose darstellt. Mit elegantem Fußspann, wohlbeachtet.

    Es bedarf nicht immer der großen prunkvollen Figuren. Ein Paar, das mit bescheidenen aber stilvollen Elementen arbeitet, mit dem Körper und Musikalität tanzt, sieht tausendmal eindrucksvoller aus, als ein Paar mit vielen Legobausteinen von Figuren ohne Rhythmus und Fußarbeit.

    In diesem Sinn schöne Grüße an die Füße... .

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    1. Lieber Gerd,
      danke für deinen Kommentar. Manchmal ist es schöner eben nicht vorwärts zu schreiten, sondern dazubleiben - mit elegantem Fußspann.
      Herzliche Grüße,
      Manuela

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Aktualisiert am 15.10.19